Miniaturisierung house temple

Elisabeth von Samsonow

The Dissident Goddesses‘ Network CORONA STATEMENT

Die gegenwärtige Krise ist eine Krise des Lebens. The Dissident Goddesses‘ Network kommentiert diesen Moment aus der Perspektive einer – nicht neuen – radikalen Forderung nach sozio-ökologischer Veränderung und Neuorientierung. Im gegenwärtigen Atemholen wird die Bedingtheit, Schönheit und Fragilität planetarer Existent deutlich wie selten: das ist die Epiphanie von Gaia.  Dieser Text ist an uns alle gerichtet, die wir leben und überleben, das „Volk von Gaia“ (Bruno Latour), und er ist gewidmet allen, die an Covid-19 gestorben sind und sterben werden.

  1. Die Krise zeigt die Menschen unerwarteterweise von ihrer schönsten Seite: sie hängen am Leben, und sie schützen es. Um jeden Preis wird das Leben gewollt und geschützt. Zu diesem Zweck werden wie selbstverständlich Maßnahmen ergriffen, die in den sogenannten „normalen Zeiten“ vollkommen undenkbar waren. Die Krise manifestiert eine tiefe Wertschätzung des Lebens, die alle Bereiche des politischen und privaten Lebens durchdringt. Das Leben wird dem wirtschaftlichen Diktat vorgezogen. Zu Gunsten des Lebens steht beinahe die gesamte Wirtschaft still. Warum ist es gut auf diesem Planeten? Warum will man hier leben? Welche Erfahrung bietet dieser Planet? Diese Krise betrifft die ganze Welt, die ganze Erde. Im Willen zu Leben sind wir solidarische PlanetarierInnen, aber auf welchem unbekannten Stern genau? Kommentar: Vor der Krise war bereits klar, dass die ökologische Belastung der Erde maximal ist, und trotzdem wurde nicht gehandelt. Kann man nur menschliches Lebens wollen und auf die terrestrischen Bedingungen dieses Lebens pfeifen? Die Krise bietet die Chance, auf die Welt zu kommen, auf diese Welt zu kommen.
  2. Die Menschen sind „auf Pause“, die Natur hat weniger Schadstoffe, weniger Belastung wie zuvor zu verdauen. Die Wirtschaftsweise des Anthropozäns hatte katastrophale Belastungsmarken erreicht. Der Effekt ist überall zu sehen: die Luft ist besser, das Wasser wird klar, die Tiere kommen zurück etc. Das ist die Epiphanie der Göttin, von Gaia, der Erde. Nach zehn Tagen hat sich die Natur erholt. Nach einem Monat strahlt sie. Nach drei Monaten regiert sie. Die Menschen empfinden das, sie werden wahrnehmen, dass es diese Qualität der Natur, der Erde ist, die sie brauchen. Es ist ein Glück, das In-der-Welt-Sein. Im Leben, nicht nur im Urlaub. Die neue Erde zeigt sich als ein Zusammenhang des Überflusses, des Luxus. Die Erde ist der Luxus. Veränderte und korrigierte Konsumgewohnheiten erlauben, zu sehen und zu erfahren, dass es genug für alle gibt.  Die Würde der Menschen nimmt zu, sie steigt, und zwar im selben Masse, wie die Erde an Subjektivität gewinnt. In-der-Welt-Sein heisst, dass die Kommunikation unter den Menschen ebenso gelingt wie die mit Individuen aller anderen Spezies (Donna Haraway). Kommentar: Dieses neue Verhältnis, das sich in den drei bis vier Monaten der Epiphanie von Gaia anbahnt, ist erotisch. Gaia ist eine Ekstase der Fülle. Die bisher aktive Begehrensmaschine der unerfüllbaren Wünsche des Menschen als Konsument und Endverbraucher wird umgebaut (dies ist eine gegen Sigmund Freud und Jacques Lacan gerichtete These) . Die Erdvergessenheit der kapitalistischen Zivilisation ist beendet, das Geo-Trauma wird in das Bewusstsein gehoben und durchgearbeitet (Robin Mackay).
  3. Die Krise verordnet den Menschen eine Pause, bietet ihnen aber auch Zeit für eine Neuorientierung an. Viele Menschen haben am Rande ihrer Möglichkeiten gearbeitet. Es bedarf einer neuen Regulierung des Verhältnisses zwischen Arbeit und Regeneration (Richard Sennett). Zu leben ist gut und begehrenswert, aber was ist der Inhalt des Lebens? Dass man andauernd am Rande der Belastbarkeit operiert? Warum ist das Leben schön? Weil man grenzenlos konsumieren kann? Welche Würde haben Menschen im Erdsystem? Woraus leiten sie ihre Forderungen ab? Der Schock weckt die Menschen auf – traurig genug, dass es durch einen Schock geschieht. Sie werden aufmerksam gemacht auf das, was sie bereits wussten: daß es so nicht weitergeht. Die Selbst-Verkennung und Fremd-Verkennung von Menschen lässt nach, dies ist in der relativen Ruhe eher möglich. Menschen werden kreativ, sie werden sich neu erfinden. Menschen entdecken ihre vielfältigen Fähigkeiten auf neue Weise, die sie zur Veränderung der menschlichen Zivilisation segenbringend für alle einsetzen können. Dazu dient die Pause, die vielen Menschen verordnet wird. Viele arbeiten weiter für andere, nämlich zum Beispiel die Menschen der Lebensmittel-, Energie und Gesundheitsbetriebe. Die Krise zeigt, welche Betriebe tatsächlich „systemerhaltend“ sind. Es sind all jene, die Leben erhalten. Das nach-metaphysische Zeitalter hat für den jetzigen Augenblick weder Deutung noch Sinn zu bieten. Das Ereignis ist der Sinn (das ist eine spinozistische These). Kommentar: Es gibt keinen Grund, sich um diese große Anzahl denkender und empfindender Wesen wirklich Sorgen zu machen.  Sorgen machen muss man sich nur in Bezug auf die Pläne, alles wieder wie gehabt „hochzufahren“. Binnen zweier Jahre wird sich die Wirtschaft neu formiert haben und anfangen zu blühen. Es muss aber eine Wirtschaft sein, die nicht Wohlstand sichert durch Ausbeutung, die nicht Gewinn macht dadurch, dass andere verlieren. Das ist möglich. Bisher hat nämlich die gesamte Produktion von kollektivem Reichtum durch Kolonialisierung und Ausbeutung funktioniert (Vandana Shiva).
  4. Frauen werden in der Krise als „Puffer“ aktiv, ihnen wird zum großen Teil das soziale Management des nunmehr begrenzten, intimen Raumes aufgeladen. Ihre Leistung an der Strukturierung der verordneten Pause ist immens. Frauen stellen die Kompetenz, die sie für diese soziale Rolle haben, wieder unter Beweis. Daher muss dies ein Start in eine schwerpunktmäßig weiblich gedachte und verfasste Zukunft vorbereitet. Mit „weiblich“ ist die Fähigkeit, hohe soziale und emotionale Verantwortung zu tragen, gemeint. Kommentar: Eine vollkommen neue Politik ist notwendig. Für diese kann das matriarchale Gesellschaftsmodell Pate stehen. Matriachale Gesellschaftsstrukturen sind symbolisch mutterzentriert, stellen mütterliche Werte ins Zentrum. Die soziale Struktur ist egalitär. Die politische Organisation beruht auf Konsens-Findung. Soziales Prestige entsteht aus den mütterlichen Werten: Versorgung, Verteilung, Förderung, Anerkennung und Liebe.
  5. Das Corona-Virus lässt die Menschen solidarisch werden, obgleich sie Abstand voneinander halten müssen. Das Gesundheitssystem arbeitet auf Hochtouren. Auslöser der Krise ist nicht ein Mensch, der anderen Menschen Übles will – wie das im Krieg der Fall wäre – , sondern das Virus, eine nicht-lebendige Hacker-Identität, ein Gen ohne Lebewesen. Im Lichte dieser neuen Solidarität muss aber unbedingt der Krieg nochmal ins Visier genommen werden: wieviel physisches Leid, wieviel Elend erzeugen Menschen für Menschen? Wie nimmt sich das aus angesichts einer Pandemie, für die ein Nicht-Subjekt verantwortlich ist? Mit dem Krieg muss Schluss gemacht werden, auch mit der Perfidie seiner wirtschaftlichen Nutzung. Im Lichte eines überforderten Gesundheitssystems wird der brutale Atavismus des Krieges in vollem Umfang erkennbar. Kommentar: Wieso ist es weniger schlimm und führt nicht sofort zum globalen Stillstand, wenn Menschen andere Menschengruppen attackieren und töten? Die Krise ist eine Chance für die Menschen, ihre Werte von Grund auf zu überdenken, vor allen Dingen die Bewertung eines Menschenlebens. Bisher gibt es nur eine Person, die ein Menschenleben optimal beurteilt, nämlich die Mutter.   
  6. Die neue Ökologie: sie ist nicht nur ein Set aus technischen Regeln wie Recycling, Schadststoffbegrenzung und Regionalismus in der Lebensmittelproduktion. Sie beruht auf der Epiphanie der Göttin, also auf dem Leben, das die Haupteigenschaft der Biosphäre darstellt. Die Erde trägt das Leben, sie ist das Leben, jenes Leben, das wir begehren. Die neue Ökologie ehrt die Göttin, Vita, Gaia, die lebendige Materie, das Konzert der vielen Spezies (siehe die Thesen von James Lovelock und Lynn Margulis). Ihr „Kult“ ist das Zen der ganz einfachen Dinge. Kommentar: Eine Ökologie, die in einen Katalog von Regeln mündet, mündet in eine Ökodiktatur. Der Corona-Ausnahmezustand führt plastisch vor, wie schnell die Bürgerrechte in vollem Umfang ausgesetzt werden können, zugunsten des Allgemeinwohles – und wie schnell sich die BürgerInnen fügen. Die Ökodiktatur ist keine Lösung der ökologischen Frage, sondern setzt die Entfremdung von der Erde mit anderen Mitteln fort. Eine Ökologie und die ihr entsprechende Ökonomie kann nur dann Sinn machen und gelingen, wenn die Erde selbst integraler Teil der Begehrensökonomie wird (hier wird Sigmund Freud und Lacques Lacan widersprochen). Dies ist möglich, wenn die Erde, um die es geht, Subjekt ist und nicht Objekt. Für Gross-Subjekte im Massstab der Erde sind bisher historisch nur Götter als Subjekt-Modelle in Umlauf gewesen. Gaia ist die planetare Bedingung der Existenz, ihr Gross-Subjekt-Status ist der einer Göttin.
  7. Die Menschen erleben durch die Pandemie eine Verunsicherung. Sie erkennen, wie fragil das Leben auf der Erde ist, wie voraussetzungsreich, wie kostbar sein Gelingen. Menschen sind nicht alleine auf der Welt, und die Erde ist nicht ihr Materiallager. Ein Virus kann sich stets den neuen Voraussetzungen anpassen, und es wird sich den für ihn besten Voraussetzungen anpassen. Der bevorstehende „Sieg über den Corona-Virus“ bedeutet nicht, dass die Dominator-Rolle der Menschen wieder wie selbstverständlich eingenommen werden kann. Es wird die Lektion im kollektiven Feld gespeichert bleiben, bleiben müssen. Gesetzt den Fall, es ist eine virale Attacke denkbar, die die Spezies Mensch auslöscht, dann werden die Narrative von der Selbst-Auslöschung des Menschen durch das Virus noch überboten. Kommentar: Das Virus ist das perfekte Symptom der Informationsgesellschaft. Es ist ein Info-Strip ohne biologische Identität, der sich under cover einschleust in den Wirt. Während der Corona-Krise werden jede Menge Satelliten in die Erdumlaufbahn geschossen – im hinteren Teil der Nachrichten-dashboards wird darüber berichtet – um „in der Luft, im Wasser und zu Land“  flächendeckend ein umfassendes Funknetz aufzubauen. Während die Menschen technisch aufrüsten für die totale Digitalisierung, erleben sie die Coronavirus-Krise. Nicht im Netz, sondern in ihren Zellen. Wie ist das zu verstehen? Was bedeutet diese „Info-Attacke“? Die digitale Avantgarde des dritten Jahrtausends erfährt im grossen Stil den Angriff  eines Virus am eigenen Leib. Das ist auch eine philosophische Parabel. 
  8. Immunität: was ist das? Immunität ist ein komplexer Zusammenhang. Es ist nicht klar, wann eine Immunreaktion stark, wann sie schwach ist. Es sind nie alle gleich krank. Immun zu sein im medizinischen Sinn ist gut, aber es gibt auch eine psychische Immunität. Die beiden Ebenen wirken zusammen. Immunisierung ist ein vielschichtiger Prozess. Soziale Systeme versuchen, Immunzonen zu etablieren für die Mitglieder, die sich innerhalb dieser Zone befinden – auch missbräuchlich, durch Anwendung der Infektions- oder „Seuchen“nomenklatur der rassistischen und totalitären Diskurse. Das Symbol der Immunität ist soziale Stabilität, die gelungene Verankerung im Sozius. Diese Idee wird im Augenblick vollständig konterkariert durch die Unterstellung, dass jeder und jede potentielle Virenträger sein können. Das Virus organisiert die soziale Struktur, dominiert über soziale Gewissheit und deren Immunisierungseffekt. Die konstitutive  Porosität der postmodernen Individuen, deren Offenheit ihre Erreichbarkeit zugleich für Begehrensangebote und Kontrolle garantiert, muss auf geeignete Weise geschützt, aber auch überdacht werden. Es gibt eine gewaltige Konkurrenz um Ansteckungserfolge. Kommentar: Man sagt, dagegen bin ich gefeit. Gefeit sein, was ist das und wie entsteht das? Gibt es überhaupt so etwas wie eine Wertschätzung des „Gefeitseins“ in einer Zeit, die Menschen gezielt vielfältigen Versuchungen, Überwältigungen und medialer „Anmache“ aussetzt? Welche Form der „Immunschwäche“ charakterisiert das postmoderne Subjekt? Wie kann es stabiliert werden? Indem Affekt klar von Infekt geschieden wird.   

 

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