Rede von Kuratorin Felicitas Thun-Hohenstein, Professorin an der Akademie der bildenden Künste und Leiterin des Forschungsprojekts THE DISSIDENT GODDESSES’ NETWORK, zur Eröffnung im NHM:
In der Ausstellung Löss – Eine Frau in der Landschaft, die Sie ab Mittwoch, den 20. Mai, mit der Öffnung des Museums auch besuchen können, werden wir im Gefolge von Covid19 auf die Utopie eines Postanthropozäns hingewiesen, in dem sich das Morgen vom Heute unterscheiden könnte – und vor allem muss.
Wie Seiltänzer balancieren wir im Moment über dem Abgrund des Möglichen. Extreme müssen abgeschritten werden. – Diese Grammatik des Gehens verwandelt sich in Elisabeth Samsonows Kunstpraxis durch eine stetige, radikal experimentelle Methode des Zuweitgehens und Überschreitens in eine Form des Widerstands und in eine unmittelbare Methode, Geschichte zu entwickeln. In dem performativen Werkkomplex der Frau in der Landschaft weist Samsonow diesem Gehen, dem aufmerksamen Abschreiten der niederösterreichischen Lösslandschaft, die ein chronologisches Archiv für Geologie, Archäologie und Ökologie bildet, einen kreativen Status zu und eröffnet solchermaßen für uns einen Weltenzwischenraum, eine Idee des Seins, die mit Deborah Bird Rose als „ecological humanity“ bezeichnet werden kann. Die Gehende mutiert zum Landschaft abtastenden „Apparatus“, indem sie Ko-Präsenzen mit der Erde auslotet und sphärische, längst fällige Symbiosen eingeht, in einem „between“ zwischen Gemeinschaften und Bindungen. Das Narrativ dieses schier zügellosen Sehnens, das die Pforten der Wahrnehmung erweitern will, zeigt sich als Intervention – hier mit geerdetem Ernst, dort mit ambulantem Humor.
Elisabeth Samsonows alternativer Gedanken-Gang durch die Landschaft folgt einem ökologischen Interesse und nimmt auf seinem Weg keine Veränderung in der Landschaft vor – der einzige Eingriff besteht im Wandern, Fotografieren und Kartieren. Der dabei stattfindende peripatetische Prozess macht den Aufbruch stark und bereitet ein Denken, das ein sorgfältig langsames Voran ausmacht: Schritt für Schritt, möglichst Alles auffassend, möglichst Nichts übersehend, denn das Wichtigste – so wird augenscheinlich – könnte in der kleinsten Information liegen.
Dem Aufbruch folgt das Erinnern nach, das Durchschreiten und Loslassen als notwendige Voraussetzung für die Neuwerdung und Ankunft in der Utopie der Hoffnung. Die Covid19-Krise zeigt uns an, was nicht mehr haltbar ist und sich ändern muss. Damit sie eine Veränderung hervorbringt, ist – wie uns die Frau in der Landschaft erkennen lässt – ein Denken vonnöten, das ein Überschreiten meint und sich hinzieht und durchzieht über die Zeiten hinweg.